Geschichten über Kalbe Milde
 

 


 

 

 
Ludolf Müller

Müller, Ludolf Hermann Sohn des Superintendenten Julius MüllerBischof Müller

Theologe, geb. 8.10.1882 in Kalbe, gest. 14.2.1959 in Magdeburg, beigesetzt auf dem Friedhof in Kalbe (Milde); Familiengrabstätte

Nach der Pfarrordination 1908 wirkte er in Westpreußen und von 1921 bis 1927 in Dingelstedt bei Halberstadt. Als Superintendent in Heiligenstadt wurde er von den Nazis 1934 entlassen und strafversetzt. Seine Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche brachte ihm eine Haftstafe von mehreren Monaten ein. 1945 stand er als Präses und Vorsitzender an der Spitze der vorläüfigen geistlichen Leitung der Kirchenprovinz Sachsen, deren Bischof er von 1947 bis 1955 war. Sein Vater war der Superintendent Julius Müller in Kalbe (Milde).
Quelle (wörtlich): Martin Wiehle "Altmark-Persönlichkeiten"
Biografisches Lexikon der Altmark, .... dr. ziethen verlag Oschersleben 1999

Sein Bruder Julius Müller jun. war Lehrer und ein eifriger Früh- und Vorgeschichtsforscher, zuletzt in Kalbe (Milde).

Grabstätte auf dem Friedhof Kalbe.
Grabstein Ludolf Mueller




Vortrag „Ein Kalbenser schreibt Geschichte – Ludolf Müller, Kirchenmann zwischen Kaiserreich und Sowjetzone“
– von Tim Dornblüth – 29. Januar 2016, Kalbe (Milde) vor dem Kultur- und Heimatverein Kalbe (Milde) Hotel Ratsstuben

Einleitung. Es soll heute Abend um Ludolf Müller gehen, einem Mann, mit dem ich einige Schnittpunkte habe: Er hat u. a. in Halle Evangelische Theologie studiert, wo ich gerade auch Ev. Theologie studiere, sein Lieblingsfach war wie bei mir die Kirchengeschichte, er war mal Pfarrer in Dingelstedt am Huy, wo ich einige Freunde habe und – das bringt uns hier heute ja zusammen – er kommt wie ich aus Kalbe.
Nur die Zeit, in der er wirkte, ist eine andere als meine gerade begonnene „Schaffensperiode“: Er wirkte im I. Weltkrieg, in der Zeit der Weimarer Republik, spielte dann eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und war schließlich Bischof in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Ludolf Müller als ein bedeutender Kirchenmann in den stürmischen Zeiten des 20. Jh. soll also Thema dieses Vortrags sein.
Dabei ist mir eines wichtig: Gerade in der Kirchengeschichte sind wir Theologen und Theologiestudenten schnell der Versuchung ausgesetzt, dass wir quasi „HeiligenGeschichtsschreibung“ betreiben, wenn wir über Personen aus dieser Zeit sprechen. Mein Ziel ist es, dies im Rahmen meiner Möglichkeiten heute zu vermeiden – ich will Ihnen Ludolf Müller auch mit seinen Ecken und Kanten aufzeigen. Insofern ist mein Titel für diesen Vortrag bewusst doppeldeutig gewählt worden: „Ein Kalbenser schreibt Geschichte“, damit meine ich natürlich erstmal den Kalbenser Ludolf Müller, der für die deutsche Vor- und Nachkriegszeit eine wichtige Rolle gespielt hat. Aber ich meine auch – ganz bescheiden – mich selbst damit: Ich als Sohn der Stadt Kalbe habe betreibe ja auch gerade mit diesem Vortrag eine Art von „Geschichtsschreibung“, also schreibt mit mir auch ein Kalbenser Geschichte. Und deshalb habe ich Ihnen jetzt auch die Voraussetzungen meiner Geschichtsschreibung genannt: dass ich eben die Kirchengeschichte des 20. Jh. im Allgemeinen und Ludolf Müller im Besonderen eben mit den verdienstvollen wie kritischen Seiten präsentieren will. Es geht mir dabei nicht darum, von einem erhöhten moralischen Podest des 21. Jh. über Müller und andere zu urteilen oder sie zu verurteilen, sondern lediglich anhand von Quellen ein möglichst differenziertes Bild zu schaffen, wie das meiner Meinung nach Ziel jeder Geschichtsschreibung sein sollte. Ich hoffe, mir gelingt das.
Meinen Vortrag orientiere ich dabei an Müllers biographischen Werdegang durch die großen Abschnitte der ersten Hälfte des 20. Jh.: Seine Kindheit und Jugend im Kaiserreich, seine Tätigkeit als junger Theologe im und nach dem I. Weltkrieg, sein Engagement im sog. Kirchenkampf während der Zeit des Nationalsozialismus und schließlich seine Zeit als erster Bischof der Kirchenprovinz Sachsen ab 1945. Abschließend möchte ich dann noch seine Frau mit einem kurzen Gedicht zu Wort kommen lassen. Das klingt alles viel, aber haben Sie keine Sorge: Ich habe mich in der Vorbereitung beschränkt, denn schon Luther soll gesagt haben: „Predigt worüber ihr wollt, nur nicht über 40 Minuten“ - und ich versuche, diese magische Marke auch deutlich zu unterschreiten. Wenn von Ihrer Seite keine Vorab-Fragen bestehen, würde ich dann mit seiner Kindheit und Jugend beginnen.

1. Jugend und junge Jahre in Kaiserreich und Weimarer Republik (1882-1933)

• Ludolf Hermann Müller wird am 8. Oktober 1882 hier in Kalbe als Sohn eines Oberpfarrers geboren. Er hat sozusagen einen „blaublütigen“ Taufpaten, nämlich den Rittergutsbesitzer Ludolf von Alvensleben, der so auch als Namensgeber für seinen ersten Taufnamen fungierte. Seinen Zweitnamen „Hermann“ erhält er von seinem zweiten Taufpaten, em Warener Gymnasialdirekter Hermann Becker.

• Die Schulbank drückt er hier zusammen mit Wilhelm Stapel, auch einen mehr oder weniger prominenten Kalbenser, der seine „Berühmtheit“ allerdings durch das Verfassen und Veröffentlichen nationalistischer und z.T. antisemitischer Schriften erlangt hat. Müller wird auch später die Verbindung zu diesem Mann aufrecht erhalten.

• Bei Ludolf Müller haben wir es mit jemanden aus konservativen Milieu zu tun. Einer seiner späteren Weggefährten wird ihn dann auch eine „konservative Natur“ nennen, dem wohl „Unterordnung unter die staatliche Obrigkeit […] von Kindheit an selbstverständlich“ war [1] doch dazu später mehr.

• Müller geht dann ins Internat ans Domstift nach Magdeburg, wo er 1901 das Abitur ablegt. Dort sollte er übrigens mal beim Domkantor vorsingen, damit der eben eventuelles musikalisches Talent weiter fördern könnte. Der Kantor hörte sich seinen Gesang ruhig an, beugte sich dann zu ihm runter und sagte ihm: „Du brauchst nicht wieder zu kommen“...

• Er beginnt dann mit dem Theologiestudium in Tübingen, später dann auch in Halle und Heidelberg. Anfangs ist er noch bei einer Studentenverbindung, dem Verein deutscher Studenten, den es ja heute auch noch gibt, er tritt dann allerdings bald wieder aus – wie er sagt, aufgrund seiner Abneigung gegen Alkohol. Später tritt er dann wieder ein, um sich nach eigenen Angaben mit den „nationalen Fragen“ auseinanderzusetzen. In Tübingen knüpft er Kontakte zu einigen, mit denen er dann auch später noch zu tun haben wird, unter anderem dem späteren „Reichsbischof“ Ludwig Müller, eine Art „Nazi-Bischof“, der aber von den damaligen Kirchenparlamenten mit großer Mehrheit an die Spitze der evangelischen Kirche in Deutschland gewählt wurde.

• Nach seinem Studium nimmt er seine erste Pfarrstelle 1908 in Dambeck (bei Salzwedel) an. Drei Jahre später heiratet er Irmgard Boy, die Tochter des damaligen Superintendenten von Ziesar (Brandenburg), mit der er sechs Kinder hat. Er betätigt sich in Dambeck politisch, indem er sich für den konservativen Reichstagskandidaten einsetzt und gegen den liberalen Bauernbund kämpft. Er wird das später aus der Rückschau nicht allzu positiv bewerten. Er sagt dann aber auch, dass er dadurch wenigstens wusste, wovon er redet, wenn er seinen Pfarrern empfohlen hat, sich nicht allzu stark politisch zu engagieren.

• Im I. Weltkrieg nimmt Ludolf Müller eine Stelle als Feldprediger an und geht nach Polen. Dort betätigt er sich dann auch am Aufbau von Soldatenheimen und übernimmt nach dem Krieg eine, wir würden heute sagen, „Auslandspfarrstelle“ in Kowalewo in Westpreußen (früher Schönsee). Er setzt sich dort für die Belange der deutschsprachigen Bevölkerung ein, kommt aber bald in Konflikt mit den polnischen Behörden: Er muss Hausdurchsuchungen und Verhaftungen über sich ergehen lassen, weil er verdächtigt wird, einen Aufstand anzetteln zu wollen. 1921 wird er schließlich ausgewiesen.

• Zurück in Deutschland verdient er sich sein Brot dann zunächst als „Reiseprediger“ und Vortragsredner über seine Zeit in Polen und wird in die preußische Synode (eine Art „Kirchenparlament“) berufen. 1922 tritt er dann seine Pfarstelle in Dingelstedt bei Halberstadt an. Dort schreibt er dann ein staatskirchenrechtliches Buch über die Kirche in Westpreußen [2] – und betätigt sich weiter politisch: Er gründet die „Vereinigung ehemaliger Ostmarkpfarrer“ und setzt sich für die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten ein. Die Rede, die er dazu im April 1925 hält, beginnt wie folgt:

„Deutsche Männer und Frauen ! Ein Schicksalstag des deutschen Volkes ist morgen: Morgen entscheidet es sich, welch ein Mann an der Spitze des deutschen Volkes stehen soll auf 7 lange Jahre. Und wir sagen: Hindenburg soll es sein ! Warum ? Weil der beste Mann an die Spitze gehört. Das ist Hindenburg: Ein Mann groß und gewaltig in seinen Taten.“. Nachdem er beschreibt, wie Hindenburg Deutschland in Tannenberg das erste Mal gerettet habe und nach dem Zusammenbruch 1918 durch seine Leitung des Heeres das zweite Mal, nennt er dann dessen (aus seiner Sicht herausragenden) Charaktereigenschaften und resümiert schließlich: „Ihm trauen wirs zu, daß er zum 3. Male der Retter Deutschlands wird. Oder braucht das Deutschland von heute keiner [sic!] Rettung ? Dieses erniedrigte, versklavte, von innerer Zwietracht zerfleischte, dieses Deutschland, in dessen Rücken sich allerhand ekelhaftes Geschmeiß eingenistet ? Dieses Deutschland wirtschaftlicher Ohnmacht, der Zuchtlosigkeit, der Auflösung alles, was groß und heilig war. Wenn 2 Das Buch trägt den Titel „Die unierte evangelische Kirche in Posen-Westpreußen unter der polnischen Gewaltherrschaft“ und wird sogar ins Englische übersetzt. ja, dann braucht das Deutschland von heute einen Retter. Hindenburg kann, Hindenburg wird es sein !“.[3] Man findet hier eine aus heutiger Sicht nicht unproblematische Grundhaltung vor, wobei man der Fairness halber aber sagen muss, dass er damit auch kein Einzelfall war: Die Weimarer Repubik galt bei vielen damals als „verloddert und versoffen“ und ca. 70% der damaligen evangelischen Pfarrer wählten die Deutschnationale Volkspartei[4], die dann später ja mit den Nazis zunächst zusammenarbeitete. Aber man muss diese Wegmarke bei ihm eben m.E. kritisch zur Kenntnis nehmen.

• 1927 wird Müller dann Superintendent (so was wie ein „kirchlicher Landrat“) im Eichsfeld. Das war für ihn schon eine Herausforderung, denn dort sind die Evangelischen gegenüber den Katholiken in der Minderheit. Dort also, in Heiligenstadt, wird er sich befinden, als die entscheidende Zäsur in seinem Leben kommt: Die Kirchenkampf-Zeit nach der Machtergreifung der Nazis.

2. Kirchenkampf-Zeit 1933-1945

• Nach der Machtübernahme der Nazis ist der ursprünglich nationalkonservative Ludolf Müller mit einigen Herausforderungen auch für sich persönlich konfrontiert: Es ist die Zeit des sog. Kirchenkampfes. Was hat es damit auf sich?

• Mit dem raschen Aufstieg der Nazis entstehen damals die sog. „Deutschen Christen“ (abgekürzt DC), also Christen, die eine sehr enge Verbindung mit dem Nationalsozialismus eingingen. Das ging bis dahin, dass man aus Jesus einen Arier machen wollte, der angeblich das Judentum abschaffen wollte, dass man Hitler als gottgesandten Retter ansah und dass man bei der sog. Sportpalast-Kundgebung forderte, dass man das Alte Testament und die Briefe des „Juden Paulus“ aus der Bibel streicht. Also kurzum: Eine (vermeintliche) Spielart von Christentum, die von „brauner Soße“ aber nur so „triefte“. Die waren aber am Anfang recht erfolgreich: Die Kirchen bei denen waren voll, also voll mit Männern in SA-Uniform, aber voll. Und die übernahmen nun stückweise in der Kirche die Macht. Auf unserem Gebiet hier ging das relativ fix, die Kirchenprovinz Sachsen (KPS), wozu im Wesentlichen viele Gebiete des heutigen Sachsen-Anhalt sowie Teile Brandenburgs und Thüringens gehörten, die war schon ganz am Anfang „gleichgeschaltet“.

• Dagegen formiert sich nun aber Widerstand, nämlich in Form der Bekennenden Kirche (abgekürzt BK), der sich dann Müller auch sehr schnell anschließt. Die Bekennende Kirche trat ein für eine unabhängige Kirche, die sich allein an der Bibel und den Reformatoren orientiert und sich nicht vom Nationalsozialismus vereinnahmen lässt. Wobei das allerdings auch kein völlig einheitlicher „Haufen“ war: Die BK wird heute manchmal so dargestellt, als wären das praktisch die heldenhaften Widerstandskämpfer gegen die Nazis gewesen – das stimmt so auch nicht. Es gab zwar Leute wie Dietrich Bonhoeffer, die wirklich bis in den Tod Widerstand gegen Hitler geleistet haben, aber es gab in der BK auch Leute, die sich zwar auf dem Gebiet der Kirche widersetzt haben, die aber gleichzeitig auch eine Glückwunsch-Adresse an Hitler unterschrieben haben, als der Paris überfallen hat. Aber darin, dass sich die Kirche nicht mit irgendeiner Weltanschauung wie dem Nationalsozialismus vermählen soll, sondern eben unabhängig und an Gottes Wort orientiert sein soll, darin waren sich zumindest alle einig.

• Für die Kirchenprovinz Sachsen übernimmt Müller darin bald die führende Rolle, er geht also sozusagen in den „kirchenpolitischen Widerstand“. Den Entschluss dazu fasst er, nach eigenen Angaben, auf einem Waldspaziergang im Juni 1933. Auslöser für diese Überlegungen war, dass die DC viele Kirchenmänner durch ihre eigenen Leute ersetzt hatten und dafür sozusagen auch noch einen Dankgottesdienst für den 2. Juli 1933 anordneten. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Müller:

„ Als ich wieder heimkehrte, war mein Entschluß gefasst, nicht bloß in diesem Einzelfalle, sondern gegenüber dem ganzen[,] die Kirche verwirrenden und zerstörenden Weg äußersten Widerstand zu leisten. [...] Das war für mich keine Kleinigkeit, der ich von Jugend auf in Ehrerbietung gegen die kirchlichen Oberen aufgewachsen war und nun ja als Superintendent auch eine kirchenregimentliche Verantwortung hatte“.[5]

• Müller beteiligt sich dann an der Gründung des Pfarrernotbundes, in dem sich Pfarrer zusammengeschlossen haben, um den DC etwas entgegen zu setzen (Martin Niemöller ist ihr bekanntestes Vertreter) und er übernimmt schließlich eine leitende Stellung im „Bruderrat“, dem Leitungsgremium der BK. Seine Arbeit geht so weit, dass sein Mitarbeiter Wolfgang Staemmler nach seinem Tod von ihm schreibt: „Müller war damals nicht nur Vorsitzender des Bruderrates und Präses der Bekenntnissynode, sondern der heimliche Bischof der Kirchenprovinz [...]“.[6]

• Dieses Engagement bleibt nicht folgenlos: Er wird im Februar 1934 zunächst zwangsbeurlaubt und dann im April nach Staats (bei Uchtspringe) strafversetzt.

• Doch nicht nur mit der deutschchristlichen Kirchenleitung bekommt Müller Ärger, auch von staatlicher Seite wird er misstrauisch beäugt. So verwundert es nicht, dass er bald von der Gestapo überwacht wird. Als er dann in Staats mehrere Tage lang keine Post bekommt, riecht er den Braten schon und entschließt sich zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Er schickt einen Brief an seine eigene Adresse und wirft ihn woanders ein. Der Inhalt dieses Briefes lautet dann:

„Staats, der 20.November 1934. Liebe Polizei. Diesen Brief habe ich zwar an mich selbst adressiert. Ich nehme aber an, da ich bereits den dritten Tag keine Post mehr erhalte, daß dieser Brief eher in Ihren als in meinen Händen sein wird. Und da möchte ich Ihnen auf diesem etwas ungewöhnlichem Wege mein Bedauern mitteilen, daß unsere kirchlichen Gegner keinen anderen Weg sehen, mit uns fertig zu werden, als daß sie uns als Staatsfeinde brandmarken und die Polizei auf uns hetzen. Anstatt in wirklich geistigem Kampf um den rechten Inhalt der christlichen Verkündigung mit uns zu ringen, benutzen| sie diesen wohl bequemeren, aber völlig dem Wesen der Kirche widersprechenden Weg, um sich in ihrer gewaltsam eroberten Macht zu erhalten ... Ich war nach dem Kriege Führer der Deutschen in Westpreußen und habe in polnischen Gefängnissen sitzen müssen, bin schließlich aus Polen als lästiger Ausländer ausgewiesen. Und jetzt wagen es Leute, die sich damals vorsichtig zurückzuhalten verstanden, uns als Vaterlandsverräter hinzustellen, um damit ihre Hundertprozentigkeit unter Beweis zu stellen. Ich habe schon manchmal den Deutschen Christen gesagt, daß niemand dem Staat Adolf Hitlers größeren Schaden getan habe als sie, indem sie verlangen, daß jeder Nationalsozialist Deutscher Christ sein müsse. Jetzt sind sie am Rande ihres Könnens; die Männer, die von den Deutschen Christen an die Spitze der Kirche gestellt wurden, haben ihre Unfähigkeit bewiesen. Nun soll die Polizei helfen. Es ist nun mein Wunsch, daß die Polizei und die sonstigen staatlichen Stellen den Mißbrauch bald erkennen, der hier mit ihnen getrieben wird. Schließlich noch eine Bitte: Können nicht wenigstens die Briefe und Pakete unserer Kinder uns auf raschestem Wege zugestellt werden. Mit freundlichem Gruß, Müller, Superintendent“.[7]

• Wenig später haben sich die staatlichen Stellen dann entschuldigt, man habe „nur“ Kirchenzeitungen überwachen wollen, es sei alles ein „Mißverständnis“[8] gewesen.

• So unkonventionell dieser Brief von Müller ist, so deutlich macht er m.E. aber auch, dass sich die BK, hier in Form von Ludolf Müller, eben oft auf innerkirchlichen Widerstand beschränkte, denn er kritisiert hier zwar in ruppigen Worten die DC, aber wir hören hier ja nichts von Kritik an staatlichen Stellen, geschweige denn an der Regierung, außer in dem Punkt, dass sie sich von den DC vereinnahmen lassen würden.

• Trotz allen Widerstands im kirchlichen Bereich, wobei er sich übrigens auch nicht zu fein war, den DC-Bischof Peter persönlich anzugreifen – trotz allem leistet Müller 1938 zudem als einer der letzten einen Treueid auf Adolf Hitler; allerdings unter Hinzufügung einer persönlichen Zusatzerklärung und in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der BK, die sagten, das wäre in engen Grenzen schon o.k., solange es dabei nicht um eine Vermischung von kirchlichem Amt und Nationalsozialismus geht.

Er hatte dann später aber dennoch Konflikte mit dem Staat hatte, und zwar nicht nur in Form von Überwachung, er saß auch mehr als einmal wegen seiner Arbeit für die BK im Gefängnis ein. Es gibt dazu eine nette Anekdote: Einmal musste er für seinen Mitstreiter Wolfgang Staemmler einsitzen, weil er den bei einer Sitzung der BK-Leitung vertreten hatte.

• Nach ein paar Wochen kommt er wieder frei und trifft diesen Wolfgang Staemmler und sagt dann zu ihm ganz trocken: „Bruder Staemmler, daß ich für Sie habe im Gefängnis sitzen müssen, tut mir nicht leid; aber daß ich habe im Gefängnis Erbsensuppe essen müssen, die Sie so lieben und die ich nicht vertragen kann, das war ein richtiges Opfer“.[9]

• Während des 2. WK kümmert sich Müller um die Anerkennung der BK-Vikare und -pfarrer, entgeht mehreren Verfahren, mit dem Voranschreiten des Krieges geht sein Engagement im Kirchenkampf dann aber auch mehr oder weniger zu Ende, weil er durch die Not in seinen Eichsfelder Gemeinden sehr eingespannt ist, in die er nach einem Gerichtsverfahren wieder zurückkehren durfte.

• Es bahnt sich dann aber schon der nächste große Schritt in Ludolf Müllers Leben an: Die Übernahme des Bischofsamts der Kirchenprovinz nach Ende des 2. WK..

3. Ludolf Müller als erster Bischof der KPS.

• Unmittelbar nach Kriegsende wird Müller in die sog. „Vorläufige Geistige Leitung“ der Kirchenprovinz Sachsen berufen, die sich nun neu aufstellt. Er wird zunächst gleichzeitig Präses der Synode und wird schließlich im Mai 1947 einstimmig zum Bischof gewählt, auch, weil man sein Engagement im Kirchenkampf hochschätzte.

• In seine Amtszeit fallen mehrere schwere Herausforderungen:
Neben dem Wiederaufbau und der materiellen Not der frühen Nachkriegsjahre muss nun die Kirche auch entnazifiziert werden. Dabei geht „seine“ Kirche relativ milde vor, es sollen hier keine Grabenkämpfe entstehen, außerdem solle, so die Begründung, die Kirche anders handeln als der Staat. Ein Kollege aus dem Forschungskolloquium Kirchengeschichte promoviert gerade über die Entnazifizierung in der KPS, das ist schon spannend, was der so erzählt. Aber das ist ein anderes Thema, das eines eigenen Referats bedarf.

• Außerdem ist seine Amtszeit natürlich gezeichnet von der Auseinandersetzung mit den Sowjets und der SED. Insbesondere die Angriffe auf die Jungen Gemeinden nehmen zu. Ludolf Müller setzt sich hier entschieden für ihre Belange ein, bis hin zu seiner berühmten Feststellung: „Wer die Jungen Gemeinden angreift, greift die Kirche an!“. Er fordert eine unabhängige kirchliche Jugend, fordert den Staat auf, die kirchliche Jugend in Ruhe zu lassen und das Verbot aufzuheben und an die Jugend appelliert er, sich zu entscheiden. In einem Hirtenbrief von ihm heißt es im März 1955 an die jungen Christen:

„Man kann nicht zu Gott und zur Gottlosigkeit gleichzeitig Ja sagen. […] Ich weiß, wie schwer es ist, in den mancherlei Anfechtungen und Versuchungen die Treue zu halten. Aber ich weiß, daß Gott treu ist. Auf Gottes Treue und Barmherzigkeit bauend, rufe ich euch zu: Lasset uns halten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat“.[10]

• Überhaupt scheut sich Müller nicht davor, die Stimme zu erheben gegen das Unrecht in der frühen DDR-Zeit. Er protestiert in Hirtenbriefen und Reden gegen die Wahlen von 1949 und 1950, gegen Rechtsunsicherheit, Falschheit im öffentlichen Leben und setzt sich für die Belange der drangsalierten Landwirte ein.

• In Hirtenbriefen versucht er, die Gemeinden zu ermutigen. Sie sollen standhaft bleiben, denn mitunter ist schon die Rede von einem neuen „Kirchenkampf“. Der Druck vonseiten des SED-Staats wächst und die Kirche kann auch unter Ludolf Müller nicht verhindern, dass Junge Gemeinden und Studentengemeinden verfolgt, kirchliche Mitarbeiter verhaftet und kirchliche Werke enteignet werden. Erst mit Einsetzen des sog. „Neuen Kurses“ 1953 kommen positive Zusagen vom Staat für die Kirche. Er geht dabei noch davon aus, dass die DDR-Regierung einsichtig geworden war. Das lässt zumindest ein Abschnitt aus seinen Lebenserinnerungen vermuten:

„Aber schon naht die große Wende! Die Regierung spürte doch, daß dieser Kampf gegen die Kirche in keiner Weise zur Festigung ihrer Position diente, sondern nur geeignet war, die allgemeine Unzufriedenheit, die ihren Hauptgrund meist in den unbefriedigenden wirtschaftlichen Verhältnissen hatte, zu vergrößern und zu vertiefen“.[11]

• Er entspricht damit auch einer damals in Kirchenkreisen weit verbreiteten Tendenz: Viele glaubten, in diesem neuen „Kirchenkampf“ gegen den SED-Staat einen Etappensieg errungen zu haben. In Wirklichkeit hatten Ulbricht und Co. im unmittelbaren Zusammenhang mit dem 17. Juni „nur“ eine Standpauke aus Moskau bekommen. Das Verhältnis zwischen DDR-Staat und Kirche sollte dann ja auch noch mancherlei Spannungen beinhalten und einen historisch interessanten Verlauf nehmen. Doch das wird Müller alles nicht mehr erleben können.

• Im Oktober 1955 geht er – nach acht turbulenten Jahren als Bischof – in den Ruhestand, engagiert sich weiter im Gustaf-Adolf-Werk, er schreibt seine Lebenserinnerungen auf und stirbt dann am 14. Februar 1959 in Magdeburg.

• Begraben liegt er hier in Kalbe, Sie laufen dran vorbei, wenn Sie durch den Friedhofspark zur Tankstelle gehen. Die Inschrift auf dem Grabstein ist aus dem Matthäus-Evangelium: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden“ (Mt 5,6).

• In der Kirche würde ich jetzt sagen: Amen!, aber wir sind ja hier auf einer eher weltlichen Veranstaltung, deshalb habe ich Ihnen zum Abschluss auch noch etwas aus dem „weltlichen“ Lebensbereich mitgebracht: Ludolf Müllers Frau, Irmgard, hat in ihrer Freizeit Gedichte geschrieben, die sich wirklich sehr schön lesen. Und ein Gedicht davon habe ich rausgesucht, um Ihnen noch einen kleinen Einblick in das alltägliche Eheleben der Müllers zu geben – wer sich von Ihnen im „seligen Stand der Ehe“ befindet, mag sich vielleicht sogar darin wieder finden. Das Gedicht heißt: „Wie unser Vater Tinte braute“.[12]

[Das Gedicht kann aus rechtlichen Gründen im Internet nicht veröffentlicht werden. Vgl. aber die Literaturangabe].

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! Mein Vortragsskript kann ich gern per Mail zur Verfügung stellen, da finden Sie auch alle Quellenbelege. Wenn Sie noch Fragen haben, so stehe ich Ihnen nun zur Verfügung.

Literatur- und Quellenverzeichnis

Zitierte Quellen:
Rede von Ludolf Müller vom 25. April 1925. Archiv und Bibliothek der Kirchenprovinz Sachsen, Rep. N 3 (NL Ludolf Müller), Nr. 52 V, transkribierte Version, siehe http://de.evangelischerwiderstand.de/pictures/documents/D1931/D1931.pdf, aufgerufen am 05.10.2014, 21.08 Uhr.
Müller, Ludolf: Lebenserinnerungen, Teil III. Kirchenkampf 1933-1945, hg. von Konrad Müller, Baden-Baden 1999.
Ders.: Lebenserinnerungen, Teil IV. Die Bischofszeit, hg. von Konrad Müller, Baden-Baden 1999.
Müller, Irmagard, geb. Boy: Was ich schenke, lieber Mann. Gedichte an die Familie, München 2007.
Rehmann, Ruth: Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater, 3. Aufl., München 1986.
Staemmler, Wolfgang: Im Kampf der Bekennenden Kirche, in: Ludolf Müller. Bischof zu Magdeburg. Ein Diener der Diaspora und Kämpfer für das evangelische Bekenntnis. Ein Gedächtnisblatt von Freunden und Mitarbeitern, hg. von Bruno Geißler, o.O. 1962, S. 17-35.
Schapper, Helmut: Als Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, in: ebd., S. 36-60.

Weitere Quellen:
Zirlewagen, Marc: Art. Ludolf Hermann Müller, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Sp. 984-990, siehe http://www.bbkl.de/lexikon/bbkl-artikel.php?wt=1&art=./M/MsMu/mueller_l_h.art, aufgerufen am 27.09.2014, 15.43 Uhr.

Fußnoten

  1. [1] Staemmler, Kampf, 17
  2. [2] Das Buch trägt den Titel „Die unierte evangelische Kirche in Posen-Westpreußen unter der polnischen Gewaltherrschaft“ und wird sogar ins Englische übersetzt.
  3. [3] Archiv und Bibliothek der Kirchenprovinz Sachsen, Rep. N 3 (NL Ludolf Müller), Nr. 52 V, siehe http://de.evangelischer-widerstand.de/pictures/documents/D1931/D1931.pdf, aufgerufen am 05.10.2014, 21.08 Uhr.
  4. [4] Vgl. Rehmann, Kanzel, 105.
  5. [5] Müller, L.: Lebenserinnerungen III, 9.
  6. [6] Staemmler, Kampf, 20.
  7. [7] Staemmler, Kampf, 21f.
  8. [8] Staemmler, Kampf, 22.
  9. [9] Staemmler, Kampf, 23.
  10. [10] Schapper, Bischof, 45.
  11. [11] Müller, L.: Lebenserinnerungen IV, 163.
  12. [12] Müller, I.: Was ich schenke..., 13-15.
 
 
 
 
   
  
 

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