Elchknochen und knöcherne Harpunen aus einem Moore bei Calbe a.d. Milde
Auszug aus einem Protokoll der Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte vom 20. Februar 1886
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(3) Hr. Oberprediger Müller zu Calbe a.d. Milde , Altmark, hat an Herrn Virchow (dem Vorsitzenden der Versammlung) mit folgendem Briefe
vom 31. Juli 1885 eine Reihe von Fundstücken übersendet, welche der letztere vorlegt. Es sind Elchknochen und knöcherne Harpunen aus einem
Moore bei Calbe a. d. Milde.
„Ich erlaube mir, zur Ansicht neun Pfeilspitzen aus Horn, die in den letzten Jahren hier gefunden sind, mit der Bitte zu übersenden, mir Ihre
Ansicht über dieselben bez. des Alters und der Verwendung mitzutheilen. Zur Orientirung bemerke ich, dass die Sachen beim Ziehen von Gräben
in einer Tiefe von 5 Fuss gefunden sind, und zwar in einer etwa 1/2 Fuss mächtigen Erdschicht, von der ich auch eine Probe beilege. Ueber dieser
Erdschicht steht Torf, unter derselben Sand. In eben dieser Schicht finden sich zwar viele Fischgrähten, aber keine Knochen von anderen Thieren,
abgesehen von wenigen Ausnahmen, von denen ich ebenfalls einige Stücke beilege, um deren Bestimmung ich bitte. Der Umstand, dass die Horngerathe
im Zusammenhang mit den Ueberbleibseln von Fischen aufgefunden worden sind, bringt mich auf die Vermuthung, dass diese Geräthe vielleicht nicht
Pfeilspitzen gewesen, sondern an Stangen zum Fischstechen benutzt sind. Den Zweck der eingeschnittenen Kimmen suchte ich anfänglich darin, dass
sie zur Befestigung an dem Pfeilschaft dienen sollten; seitdem mir aber die Spitzen b und h zugegangen sind, an denen sich die
Einschnitte bis nahe an die Spitze heranziehen, glaube ich einen weiteren Zweck derselben darin erkennen zu sollen, dass sie zum
Festhalten der gestochenen Fische dienten.
"In der Sammlung unseres altmärkischen Vereins in Salzwedel giebt es solche Horngeräthe nicht; auch in dem Provinzial-Museum zu
Hannover habe ich mich vergeblich darnach umgesehen."
Hr. Virchow: Unter dem 23. Nov. v. J. theilte mir Hr. Müller ferner mit, dass noch weitere Funde derartiger Pfeilspitzen gemacht
seien, darunter eine zusammen mit 2 Feuersteinmessern von 7 cm Länge, sowie mit 2 Schiefersteinen, von denen der eine etwa 1 cm dick,
12 cm lang und 2,3 cm breit, der andere in der Mitte 1,5 cm dick, 8 cm lang und 2,2 cm breit sei. Ich habe die Schiefersteine nicht
gesehen, möchte sie aber nach der Beschreibung und Zeichnung für Schleifsteine halten.
In den letzten Tagen habe ich Gelegenheit gehabt, Hrn. Müller persönlich zu sprechen und Genaueres über die Funde zu hören. Darnach
ist bis jetzt keine Spur von Metall oder Thongeräth zu Tage gefördert; ebensowenig sind Pfähle bemerkt worden, welche auf einstige
Wohnstätten hinweisen könnten. Das Moor ist bis in die neueste Zeit sehr feucht gewesen und man hat erst neuerlich angefangen,
längliche Gräben auszuheben, in denen sich das Wasser sammelt, während die ausgehobene Moorerde zur Aufhöhung von Erdrücken zwischen
den Gräben dient; auf diese Weise wird die Fläche zum Theil der Cultur zugängig. Eine tiefere Grabung hat nirgends stattgefunden,
wie denn das nachdringende Wasser die Arbeiten sehr erschwert. Die Proben der übersendeten Erdschicht bestehen aus einer bläulich
grauen, beim Anfeuchten schwärzlichen Masse, welche zum grösseren Theile aus sandigem Klay besteht; in demselben sind jedoch
Pflanzenreste, namentlich erkennbare Reste von Laubmoosen, eingeschlossen. Die mit übersendeten Thierknochen, ein Griffelbein, ein
Hufknochen und ein Würfelbein, stammen allem Anschein nach vom Elch.
Die Geräthe sind nicht aus Horn, sondern aus langen Knochen, wahrscheinlich des Elch hergestellt; man erkennt daran noch zum Theil
die natürlichen Kanten und Rinnen. Sie zeigen, wie die vorher erwähnten ganzen Knochen, die gewöhnliche Beschaffenheit von
Torfknochen: grosse Festigkeit, Glanz an der Oberfläche und braune Farbe, und zwar in allen Nuancen von Hellbraun bis zu dem
dunkelsten, fast schwarzen Braun. Unter den 9 zur Ansicht übersendeten Stücken habe ich 5 ausgewählt, welche nachstehend in halber
Grösse zinkographisch dargestellt sind; ihre wirkliche Grösse ist folgende:
a) Fig. 1 11,0 cm lang, 1,0 cm breit
b) Fig. 2 11,5 cm lang 1,3 cm breit
d) Fig. 3 20,3 cm lang 1,0 cm breit
e) Fig. 4 22,5 cm lang 1,3 cm breit
i) Fig. 5 12,5 cm lang 1,1 cm breit
Alle besitzen eine scharfe und gut polirte Zuspitzung, welche bei mehreren, namentlich bei Fig. 1, 4 und 5, noch ganz vollständig
erhalten ist. Bei Fig. 1 ist die Spitze lang ausgezogen und gerundet, bei Fig. 4 etwas kürzer und stumpfer. Fig. 5 ist im Ganzen
platt und so auch die Spitze. Bei Fig. 3 und 4, zum Theil auch bei Fig. 1 sieht man noch die natürliche Canellirung des etwas
dickeren Knochens. Bei allen Stücken finden sich auf einer Seite sägeartige Einkerbungen. Bei einigen (z. B. c und f) sind dieselben
fein oder wenigstens seicht, bei i (Fig. 5) sogar ganz oberflächlich und gering an Zahl; bei anderen dagegen bemerkt man breite,
tiefe und zugleich zahlreiche Einkerbungen. So zähle ich bei Fig. 2 bis zu 52, bei f bis 20 Kerben. Die Spitze selbst ist stets
frei davon, jedoch hat schon Hr. Müller mit Recht hervorgehoben, dass bei b (Fig. 2) und h die Kerben oder, wie er sagt, die Kimmen
bis fast zum Ende reichen. Durch diese Einkerbungen entstehen zahnartige Vorsprünge, welche jedoch niemals die Form von Widerhaken
zeigen; vielmehr sind die Kerben durchweg senkrecht gegen die Kante eingeschnitten, bald seichter, bald tiefer, bis zu 2-3 mm Tiefe.
Die Tiefe der Kerben wechselt aber auch bei demselben Stück (z. B. Fig. 2), zuweilen sogar in regelmässigen Abständen, so dass
zwischen je 2 tieferen Kerben breitere Zähne entstehen, welche wieder durch seichtere Einschnitte eingekerbt sind. Niemals sind die
Zähne zugespitzt; auch da, wo sie sehr schmal sind, zeigen sie eine leicht gerundete Oberfläche.
Ich kann den Eindruck im Ganzen nur mit dem einer Säge vergleichen. Die Geräthe sehen manchen der sogenannten Feuersteinsägen (
z. B. den erst letzthin von mir besprochenen Stücken von Helwan) zum Verwechseln ähnlich. Indess der Umstand, dass sie regelmässig
scharf zugespitzt sind, wenngleich bei einigen die Spitze abgebrochen ist, spricht deutlich dafür, dass sie nicht als Sägen
angefertigt wurden, wozu auch das Material nicht geeignet gewesen wäre. Offenbar wurden sie zum Stechen hergerichtet, und man wird sie
daher, wie auch manche analogen Feuersteingeräthe, wohl als eine Art von Wurfspiess-Spitzen oder Lanzenspitzen betrachten dürfen.
Hr. Müller vermuthet, wie mir scheint, mit Recht, dass die Einkerbungen den Zweck hatten, das Festhalten der Spitze im Körper des
getroffenen Thieres zu bewirken. Insofern stehen sie den eigentlichen Harpunen sehr nahe, obwohl diese, wie auch Funde aus unserer
Gegend, z. B. von Herrn Stimming aus der Umgebung von Brandenburg a. Havel, beweisen, mit wirklichen Widerhaken besetzt zu sein
pflegen.
Auffällig bleibt dabei die blos einseitige Anordnung der Kerben. Man könnte daraus allenfalls schliessen, dass es Instrumente zum
Netzestricken gewesen seien, bei denen die Kerben zum Umschlingen eines Fadens gedient haben. Indess dagegen spricht sowohl die
Grösse der Geräthe, als namentlich die ungemein spitzige Beschaffenheit des vorderen Endes, welche wohl nur für eine wirkliche
Waffe geeignet ist. Auch bei einer solchen könnte die Reihe der Kerben dazu bestimmt gewesen sein, die Befestigung der Spitze an
einem Lanzenstock durch einen Faden zu sichern.
Derartige Instrumente, jedoch meist mit etwas schrägen Einkerbungen, sind aus prähistorischer Zeit bekannt. Ich verweise auf Madsen,
Age de la pierre Pl. 40 Fig. 8. Jedoch giebt es ähnliche auch bei heutigen Wilden z. B. bei den Feuerländern (Lubbock, Prehist.
times p. 553 conf. p. 109). Aus Sachsen kenne ich nur den Fund von Wilsleben aus "der See" (Verh. 1880 S. 300), von dem angenommen
wurde, dass die Spitze aus dem Stosszahn eines Narwal gefertigt sei. Jedenfalls gehören diese Geräthe überall der vormetallischen
Zeit an. Für eine solche Annahme sprechen auch die Funde aus dem Milde-Bruch, wo nun wenigstens einzelne Feuersteinmesser gefunden
sind. Indess beweisen diese weniger, als die Art der Herstellung der Geräthe selbst. An diesen erkennt man deutlich die scharfen,
sich kreuzenden Schabelinien oder Kritze des Feuersteins."
Am deutlichsten sind diese bei Fig. 5, wo die platten Flächen in grosser Ausdehnung mit solchen Einkritzungen besetzt sind.
Nächstdem sieht man sie gut bei Fig. 4, sowohl am hinteren Ende, als unter der Spitze. Jedoch fehlen sie auch an der Mehrzahl
der anderen nicht. Dazu kommt die Art der seitlichen Einkerbungen, welche so roh ausgeführt sind, dass sie schwerlich durch
etwas Anderes, als durch Feuersteingeräthe erzeugt sein können. An vielen Stellen erkennt man noch die verschiedenen Ansätze
des angewendeten Instrumentes. Man wird daher schliessen müssen, dass die Geräthe aus dem Milde-Bruch in der That der Steinzeit
angehören. Möglicherweise stammen sie sogar aus der palaeolithischen Periode, wofür namentlich der Mangel an Thongeräth zu sprechen
scheint; sie müssten dann weit vor jene spätneolithische Zeit gerückt werden, welche in den schönen Thongefässen von Tangermünde so
charakteristische Repräsentanten hinterlassen hat. Ja, sie könnten zu den ältesten Fundstücken in Norddeutschland gerechnet werden.
Immerhin wäre es in höchstem Grade wünschenswerth, dass die Arbeiten in dem Calbenser Moor nicht blos fortgesetzt, sondern auch bis in
grössere Tiefen geführt werden möchten. Es lässt sich an sich erwarten, dass schwerere Gegenstände, wie Steingeräth und Thongeschirr,
in dem weichen Boden bis in grössere Tiefen gesunken sind, als die leichteren Knochengeräthe. Vielleicht würde es nöthig sein,
eine Art von Baggerung an solchen Stellen vorzunehmen, wo mehrere Knochengeräthe angetroffen wurden. Denn wenn es sich auch nicht um
Wohnplätze handeln sollte, so ist doch kaum anzunehmen, dass die Stücke zu einer Zeit versenkt wurden, wo noch offenes Wasser
vorhanden war, wo also Fischer in Kähnen diese Stellen befuhren. Dazu ist die Zahl der gesammelten Knochengeräthe doch zu gross.
Wahrscheinlicher dürfte es wohl sein, dass ein ausgedehntes nasses Bruch vorhanden war, welches mindestens im Winter den Elchen den
Zutritt gestattete, und dass Jäger in Verfolgung dieser Thiere ihre Wurfspiesse oder Lanzen schleuderten, von denen ein Theil
verloren ging, namentlich dadurch, dass die angeschossenen Thiere sich durch die Flucht ihren Nachstellern entzogen und vielleicht
erst später zusammenbrachen, so dass jetzt intakte Elchknochen und Lanzenspitzen neben einander liegen.
Hrn. Oberprediger Müller darf ich für seine höchst interessanten Mittheilungen und die Sorgfalt, welche er auf die Sammlung des Materials
verwendet hat, den besten Dank aussprechen. Später hoffe ich persönlich die Stelle besuchen und daselbst, falls es möglich ist,
weitere Nachforschungen veranlassen zu können. ...
entnommen in Auszügen der Zeitschrift für Ethnologie. 18. Jahrgang. Heft II & III. 1886.
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