Die Goßlers in Magdeburg, Anhalt und der Altmark (Zichtau und Kalbe/Milde)

Von Gottfried von Goßler /Hamburg im Februar 2013.


Die Unternehmerfamilie Goßler

Die Familie Goßler stammt ursprünglich aus der Gegend südlich von Hof (Oberfranken) nämlich aus dem kleinen Dorf Gosel. Das "o“ in Goßler wurde damals lang gesprochen, heute kurz. Dieser Flecken liegt südlich von Eger (Cheb), heißt heute Kosly und liegt in Tschechien. Hans Goßler betrieb 1687 in Höchstädt etwa 50 km nordwestlich von Gosel am Fuße des Fichtelgebirges neben einer kleinen Landwirtschaft eine Gastwirtschaft „Zum roten Roß“, sowie eine Umspannstation für Pferdefuhrwerke auf dem großen Handelswege von Süden nach Norden. Das Gasthaus existiert noch . Hans Goßlers Sohn Christoph zog in das nach dem dreißigjährigen Krieg wieder aufblühende Magdeburg und machte sich im Jahre 1713 als Kaufmann selbständig. Im Jahre 1745 nach ca. 30 Jahren übergab er das Geschäft an seinen Sohn Christoph. Wir nennen ihn Christoph den Jüngeren in unserer Familie. Magdeburg war im 18. Jahrhundert eine Drehscheibe des Handels, begünstigt durch die Schifffahrt auf der Elbe. Von Flandern bis Russland und Hamburg bis Sachsen wurden Waren gehandelt. Man verdiente am Stapelrecht ( d.h.für Waren, die durch Magdeburg transportiert wurden, mussten Abgaben bezahlt werden) und betrieb ein Eigengeschäft z. B. mit Getreide , Holz, Flachs, Hanf, Leinsamen, Talg, Hering, Wein , Kaffee, Tuch , Zucker, Juchten (gegerbtes Leder) e.t.c. Schließlich wagte die Firma Goßler & Sohn auch einen Schritt in die Industrialisierung und kaufte das Hammerwerk ( für Bleche) Oberblauenthal bei Eibenstock a.d. Mulde. Christoph Goßler der Jüngere wurde als „wohlerfahrener und geschickter Kaufmann“ vom damaligen preußischen König (Friedrich II) als Experte bei Neuverhandlungen z. B. zwischen Sachsen und Preußen empfohlen und schließlich zum Kriegs-und Domänenrat ernannt.
Der Siebenjährige Krieg (1756-1763), manche nennen ihn den ersten Weltkrieg, da alle Mächte Europas , ja der damaligen Welt involviert waren, (Preußen und Kur-Hannnover gegen die Habsburger Monarchie und Frankreich usw.) brachte für Magdeburg ein Aufblühen des Wirtschaftslebens. Truppen mussten versorgt und Holz für die Bevölkerung herangeschafft werden. Christoph baute zusätzlich zum Handel eine Flotte von 30 Kähnen auf und unterschrieb seine Verträge nun mit „ Kriegs-und Domänenrat und Banquier“. Dieser Geschäftszweig brachte Christoph aber in Schwierigkeiten mit den Schiffern auf der Elbe. Die Schifferschaft schrieb an den König „ dass der größte Kaufmann Magdeburgs nicht gleichzeitig Schiffer sein kann“ Gewerbefreiheit gab es noch nicht.
Christophs Tatkraft kannte im Zuge der beginnenden industriellen Entwicklung keine Grenzen. Er erwarb 1767 die im Konkurs befindliche Haase & Diesingsche Fabrik von Halbseiden-, Halbleinen und Wollwaren und wurde damit zum größten Arbeitgeber Magdeburgs. 1500 Menschen waren bei ihm beschäftigt, für damalige Zeiten eine sehr große Zahl. Damit nicht genug . Er erwarb auch ein Landgut, was als Bürgerlicher nicht einfach war, und zwar die adeligen Güter Alt-und Neukönigsborn (1260 Morgen Acker, 620 Morgen Wiesen ,15 Morgen Gärten, 30 Morgen Anger und 7 Teiche) 8 km östlich von Magdeburg sowie das Gut Wahlitz und baute (vor 1775) das Schloß Neukönigsborn mit Gutsanlage im friderizianischen Stil. In Königsborn siedelte er auch Seidenweber an und pflanzte 30000 Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht.
Christoph der Jüngere hatte mit seiner Frau Dorothea Catharina geb. Neumann 17 Kinder (nur sieben überlebten) – ihre Großmutter war eine geb Passavant. Man "begeht“ noch heute die zahlreichen Gullydeckel auf unseren Straßen aus der Fabrik Passavant von einem Frankfurter Zweig dieser Hugenottenfamilie aus Burgund und der Schweiz. Neumanns stammten aus Perleberg. Das 15. Kind von Christoph und Dorothea Catherina war Conrad Christian (1769-1842 ). Der Vorfahr der Familie von Goßler in der Altmark, in Ostpreußen und in Schlesien.

Die preußischen Beamten von Goßler

Unternehmer gewinnen, können reich werden, wie Christoph Goßler in Magdeburg. Sie gehen aber auch ständig wirtschaftliche Risiken ein und nicht selten verlieren sie alles. Beliebt macht Reichtum nie. Neider gab es damals und heute. Christoph d. J. hatte kein Glück mit seiner Fabrik. Die Konkurrenz wurde groß und überall wurden Zölle auf "ausländische“ Waren erhoben. Das galt z. B. für "Exporte“ nach Herford (Westfalen)., erst recht für Exporte nach Russland. Auch die neu errichtete Seidenfabrik in Königsborn ärgerte die Konkurrenz, insbesondere die Berliner Konkurrenz. Die Bürokratie wucherte schon damals, vielleicht noch stärker als heute. Zahlreiche Vorschriften mussten erfüllt werden und kosteten Geld und Kraft. Große Verluste erlitt Christoph bei einem Verkauf nach Archangelsk. Das Schiff ging bei Husum unter. Die Versicherung zahlte nicht. Wahrscheinlich traten auch große Verluste auf durch den Krieg mit Holland (1787). Die Holländer konfiszierten Christophs Fracht auf den Handelsschiffen. Die Zeiten wurden schwierig, Forderungen nicht bedient, das Geld entwertet. 1790 war fast das ganze Vermögen verloren. Das Gut Königsborn ging an die Familie Gansauge aus Tangermünde. Am 26 April 1791 früh 1 Uhr starb der Kriegsrat Christoph Goßler im 68. Lebensjahr.

Seine fünf Söhne hatten alle Jura studiert und waren in den Staatsdienst getreten. Conrad Christian, das 15. Kind und der jüngste Sohn - der Vorfahr der Familie von Goßler - besuchte das Alumnat des Klosters Unserer lieben Frauen in Magdeburg und studierte zweieinhalb Jahre die "Justiz- und Kriminalfächer“ bis 1790.

Vermögen hatte Conrad Christian nicht geerbt. Den Zusammenbruch der Firma erlebend, wusste er, dass Fleiß notwendig war, um das Leben zu meistern. 1795 wurde Conrad Regierungsrat bei der Regierung in Magdeburg. Jeder preußische Beamte wurde regelmäßig von Vorgesetzten beurteilt. Seine Zeugnisse, die heute noch nachzulesen sind, sind glänzend. Er galt als ein durch vorzügliche Fähigkeiten, Kenntnisse und beharrlichen Fleiß ausgezeichneter Rat. Conrad war mit vielfältigen Tätigkeiten betraut. Er initierte sogar eine Berufsschule (Industrieschule) für Knaben und Mädchen in Burgörner. Dies zeigt das breite Feld seiner Tätigkeiten.
Am 7. August 1795 heiratete der königliche Regierungsrat Conrad Christian Goßler, 25 Jahre alt, die Jungfer Anne Charlotte Cuny, 16 Jahre alt. Sie stammte aus einer wohlhabenden Hugenotten-Familie Magdeburgs. Charlottes Vater Johann Jakob Cuny war Ältermann der Kaufmannschaft in Magdeburg. Am Alten Markt 19 betrieb Conrads Schwiegervater sowohl einen Handel mit russischen Produkten als auch eine "Grüneseifen“ Fabrik. Über diese Familie sind Goßlers mit dem Schriftsteller Theodor Fontane verwandt. Fontane wurde zu Zeiten Bismarcks vom preußischen Kultusminister Gustav v. Goßler, einem Enkel Conrads (und Vetter Fontanes, wahrscheinlich ohne es zu wissen) sehr geschätzt und gefördert. Fünf Kinder wurden in Magdeburg geboren. Ein Sohn - Albert von Goßler - wurde später Premierminister in Anhalt-Köthen sowie Anhalt Dessau. Er kaufte Mitte des 19. Jahrhunderts die Güter Zichtau I und II in der Altmark. Karl Gustav von Goßler, geboren in Kassel, wurde Kanzler in Preußen (Königsberg). Kurz nach Karl Gustavs Geburt starb Charlotte Goßler. Conrad heiratete später ein zweites Mal und zwar Charlotte von Rumohr vom Rundhof (bei Flensburg) in Schleswig–Holstein, damals zu Dänemark gehörig. Ein Sohn aus dieser Ehe, Eugen, ließ sich in Schlesien nieder und wurde Landrat im Kreise Guhrau. Durch Heirat gelangte er an das Gut Klein Kloden.

Dunkle Wolken zogen zu Beginn des 19. Jahrhunderts über Europa. Napoleon besetzte Preußen und damit auch Magdeburg ( 8. November 1806). Am 14 Oktober 1806 wurde in der Schlacht bei Jena und Auerstädt das alte Preußen überrannt, desorganisierte Truppen durchfluteten Magdeburg. Im Frieden von Tilsit (7/9 Juli 1807) hatte der preußische König alle Länder zwischen Rhein und Elbe, also auch Magdeburg, zu Napoleons freier Verfügung abtreten müssen. Durch eine Publikation wurden die Staatsbeamten aus ihrer Pflicht gegen den König von Preußen entlassen. So auch Conrad Goßler. Das große Rad der Geschichte ging über die Großen und Kleinen hinweg Am 18. August 1807 wurde das neue Königreich Westfalen gegründet (damals schrieb man Westphalen). Das Königreich hatte fast zwei Millionen Einwohner und wurde nach französischem Vorbild in acht Departements gegliedert. Napoleons jüngster Bruder, Jerome, wurde König von Westphalen und versprach die Rückständigkeiten des alten Regimes zu beseitigen. Die Beurteilung des neuen Regimes schwankt natürlich in der Geschichte. In der Tat wurden viele Neuerungen eingeführt, z. B. Gleichheit vor dem Gesetz, Abschaffung persönlicher Privilegien, Gewerbefreiheit und andere Errungenschaften der Französischen Revolution. Einige wenige, man kann wohl sagen erfahrene Spitzenbeamte –auch Conrad Goßler - er sprach Französisch, wie seine Frau aus der Hugenottenfamilie Cuny - wurden in die Hauptstadt des Königreiches nach Kassel geholt. Und dies gerade deshalb, weil sie nicht zum Adel Preußens gehörten. Im Laufe der Zeit trat jedoch in dieser Hinsicht ein Sinneswandel im neuen Königreich ein, und einige wenige hohe Beamte - Conrad Goßler war inzwischen Generalprokurator am Apellationsgericht in Kassel - wurden in den Adelsstand erhoben. Zu einem Königreich gehöre auch Adel war die Devise. Napoleon hatte sich ja selbst zum Kaiser ernannt. 1812 wurde Conrad "Maitre des Requetes" beim Staatsrat, der höchsten Verwaltungsbehörde des Königreiches. Bereits 1811 wurde er Chevalier des Ordens der westfälischen Krone.

Conrad musste wohl in den schweren Zeitläufen eine Eingebung gehabt haben, die das Leben aller seiner Nachkommen in vieler Hinsicht entscheidend beeinflusste, Vorteile und Verpflichtungen brachte und Gefahren hervorrief. Er bat den König, ihn in den Adelsstand zu erheben. Vor fast genau 200 Jahren am 27. Februar 1813 erfolgte die Verleihung des westfälischen Adels. In der Urkunde heißt es....de lui accorder la noblesse transmissible avec le titre de chevalier (...ihn in den erblichen Adelsstand zu erheben mit dem Titel Ritter..) Man sprach und schrieb Französisch im Königreich Westphalen!

Zu jener Zeit bis 1918 herrschten in Deutschland zahlreiche Monarchen. In einer Monarchie hatte der Adel bestimmte Rechte und Pflichten. Für diese Klasse galten auch bestimmte Verhaltensregeln, was man zu tun hatte und was zu unterlassen war. Man durfte auch möglichst nicht verarmen, und man heiratete untereinander, um nur ein paar aus heutiger Sicht kuriose Dinge zu nennen. Fast alle Staatsämter und Offiziersstellen beim Militär standen dem Adel bei Eignung offen. Studieren konnte man "die Rechte“, Ingenieur wurde man nicht und man besaß einen Landsitz. Dem nicht-regierenden Adel war es "erlaubt“, reiche Bürgerstöchter zu heiraten. Man sorgte für die Menschen, die, insbesondere auf dem Lande, für die Adelsfamilie arbeiteten. All dies waren übernommene Traditionen aus dem Mittelalter. Ende des Jahres 1813 wurde Napoleon besiegt und das Königreich Westphalen brach zusammen. Der Kurfürst von Hessen kehrte zurück, die Restauration der alten Verhältnisse begann. Der Familie von Goßler, Conrad hatte nach dem Tode seiner ersten Frau, die in Kassel im Kindbett starb, wieder geheiratet, und zwar ein Fräulein (keine Jungfer!) von Rumohr vom Rundhof in Schleswig- Holstein (Dänemark).

Conrad zog nach Berlin, um wieder in preußische Dienste zu treten, was ihm nach einiger Wartezeit und Anerkennung seiner Dienstzeit in Kassel (er war Beamter!), gelang. Conrad erlebte eine glückliche Zeit in Berlin, wo er sich aus dem Brautschatz seiner zweiten Frau ein Haus am Leipziger Platz 11 kaufte mit einem großen Garten in dem Conrad und sein Sohn Albert, der spätere Zichtauer Goßler, unermüdlich arbeiteten. Der westfälische Adel wurde als königlich preußischer anerkannt. Conrad und Charlotte (geb. von Rumohr) wurden Eltern von sechs weiteren Kindern. Conrad erlebte 1840 in Berlin sein 50. Dienstjubiläum und wurde im selben Jahr Ehrenbürger von Magdeburg.

Die Altmärker Goßlers (Zichtau und Kalbe/Milde, früher Calbe/Milde)

Albert von Goßler, Conrad Christians Sohn und begeisterter Gärtner, studierte ebenfalls Jura in Bonn und Berlin und wurde 1843 Regierungsrat in Liegnitz (Schlesien). Preußische Beamte galten als gut ausgebildet und verstanden auch etwas von "den Finanzen“. Das Herzogtum Anhalt Köthen war in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Es stand vor dem Staatsbankrott Albert von Goßler wurde 1846 als Premierminister nach Anhalt-Köthen gerufen – später als Staatsminister auch nach Anhalt Dessau - um die Herzogtümer zu regieren und auch zu sanieren. Er siedelte nach Dessau über und blieb dort bis zu seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1857. In einem "Cöthens 12. November“ betitelten Büchlein wird ihm das Lob gezollt: "Sie haben sich in die Geschichte unseres Vaterlandes, in den Herzen unserer aller Staatsbürger einen unvergänglichen Ehrenplatz erworben, und nie wird das große Jahr der Freiheit ohne Sie genannt werden“.

Albert von Goßler erlebte die revolutionären Zeiten (1848) als Staatsminister in den anhaltinischen Herzogtümern. Seine Kollegen in den deutschen Monarchien wurden in der Regel abgesetzt, weil sie entweder zu nachgiebig ( z. B Ernst von Pfuel in Preußen, einer meiner dreifachen Urgroßväter, ließ nicht auf die Revolutionäre schießen und musste gehen) oder zu konservativ waren. Albert blieb Staatsminister und ließ eine neue Verfassung entwerfen, die, wie mir die Forschungsstätte Oranienbaum in Sachsen-Anhalt sagte, auch Vorbild für die bundesrepublikanische Verfassung war.

Albert von Goßler war verheiratet mit Auguste von Lamprecht, Tochter des Intendanten (Chef der Militärverwaltung) des Gardekorps in Berlin. Im Jahre 1854 kaufte Albert die Rittergüter Zichtau "alte und neue Seite“. 400 Jahre war Zichtau im Besitz der Familie von Alvensleben, kurze Zeit auch teilweise Eigentum des Amtmannes Solbrig. Eine Schwester des letzten Besitzers des Gutes Zichtau Fried Albert von Goßler – Eigentümer bis zur Enteignung und Vertreibung durch die Kommunisten 1945 – war mit Dr. Ludolf v. Alvensleben, Besitzer des Rittergutes I in Kalbe/Milde, verheiratet.

Albert wurde 1867 ein Mandat vom Kreise Salzwedel/Gardelegen für das preußische Abgeordnetenhaus übertragen Von Albert stammt der Wahlspruch der Familie :“ Aufrichtig und beharrlich“. Sein ältester Sohn Konrad, verheiratet mit Elisabeth Rabe von Pappenheim aus dem Hause Stammen/Liebenau in Hessen, ebenfalls Jurist und zeitweilig königlich preußischer Landrat des Kreises Gardelegen, führte das Gut weiter bis zu seinem Tode im Jahre 1900. Danach übernahm es sein Sohn Fried Albert von Goßler, damals ein bekannter Rennreiter. Er wurde 1913 zum königlich preußischen Kammerherr ernannt. Sein Sohn Johann Albert von Goßler- letzter potentieller Erbe des Gutes Zichtau - starb im Mai 1945 an seinen schweren Kriegsverwundungen in Kopenhagen.

Nach der Wiedervereinigung gelang es Hasso von Blücher, Sohn einer Tochter Fried Alberts, Dorothea von Blücher geb. von Goßler- Zichtau , einen Teil des Gutes, den Gutshof, Schafstall und etwas Land, wieder zu erwerben. Hasso von Blücher hat inzwischen erhebliche Mittel in Zichtau investiert. Eine Gartenakademie ist jetzt dort beheimatet. Die Ruine des Gutshauses musste abgerissen werden, ein Hotel ist geplant. Andreas von Goßler, Sohn von Gottfried (Autor dieser Zeilen)und Louisa von Goßler geb. Albrecht, hat ca 75 ha Ackerland aus enteignetem Goßlerschen Besitz wieder erworben.

In Zichtau an der Kirche befindet sich der gemeinsame Friedhof der Zichtauer Goßlers und der Kalbenser Goßlers. Nach der Wiedervereinigung konnten wir dort wieder Mitglieder der Familie begraben.

Das Schloss (Gutshaus) von Goßler in Kalbe/Milde

Der zweite Sohn des Zichtauers Albert von Goßler, Martin von Goßler (1843-1898), wurde Soldat in Preußen Dies war in Adelsfamilien oft üblich, da das Erbe, z. B.der Gutshof Zichtau, nicht geteilt werden konnte und in der Regel an den ältesten Sohn vererbt wurde.

Martin wurde 1882 zum Adjutanten des Generalfeldmarschalls Graf von Moltke (der alte Moltke, der große Schweiger) ernannt und beschloss seine militärische Laufbahn als Generalleutnant und Chef der Zentralabteilung des Großen Generalstabs. Solche Persönlichkeiten wurden mit Excellenz - und zwar Mann und Ehefrau - angeredet. Er und seine Frau Marie geb von Pfuel, Tochter des Generals von Pfuel und damit Enkelin des preußischen Ministerpräsidenten, Ernst von Pfuel, kauften sich im Jahre 1873 für 90.000 Taler das Gut Kalbe II (172 ha), ein ehemaliges Vorwerk der Familie von Alvensleben. Von Beginn des 19. Jahrhunderts an bis 1873 war es im Besitz der Familie Schildt gewesen. Eugenie Schildt, die Tochter von Amtmann Schildt, eine Förderin der Kunst, ist immer noch eine bekannte Persönlichkeit in Kalbe, nach ihr wurde in Kalbe eine Stassse benannt.

Ein schönes Haus stand auf dem Gelände des Rittergutes Kalbe II. Es musste jedoch abgerissen werden, da der Schwamm darin war. Martin von Goßler – mein Urgroßvater- baute ein neues Gutshaus, das heute "Schloss Goßler“ genannt wird. Es ist auch eher wie ein Schloß - allerdings ein sehr kleines - gebaut worden, in rotem Backstein (heute weiß übertüncht). Wer einmal das Schloß Granitz auf Rügen besichtigt hat, wird gewisse Ähnlichkeiten erkennen. Es ist etwa zur gleichen Zeit gebaut worden. Kenner der Villa Rotonda in Italien ( Vicenza ) bemerken ebenfalls Ähnlichkeiten.

Mein Urgroßvater lebte zeitweilig in Kalbe, aufgrund seines Berufs jedoch überall im Kaiserreich. In Potsdam besaß er ein Haus. Dort haben nach dem Krieg die Russen "gehaust“. Die Villa ist jedoch erhalten und wieder im Besitz der Familie. Kalbe war für ihn ein "Sommerschloss“. Martin starb früh mit 55 Jahren. Seine Frau, die Excellenz, überlebte ihn um 36 Jahre und wohnte als Witwe lange Jahre im Kalbenser Schloss. Meine Urgroßeltern hatten sieben Kinder, darunter zwei Töchter. Alle fünf Jungs besuchten Kadettenanstalten und wurden Soldaten. Nur mein Großvater, der auch Martin (der Jüngere) hieß, wurde in Zichtau geboren. Er erbte nach dem Tode seiner Mutter (1930) das Kalbenser Rittergut II. Etwa 20 ha- auf denen heute das Kulturhaus steht und Land an der Eugenie Schildtstraße bis etwa zum Friedhof - ging als Erbteil an zwei Söhne. Dieses Land wurde 1945 nicht enteignet , da es nicht mehr zum Rittergut gehörte.

Martin der Jüngere heiratete sehr jung seine Cousine Annlies geb. Rabe von Pappenheim, eine Nichte der Zichtauer Gutsherrin. Mein Großvater war am Ende des ersten Weltkriegs Kommandeur des Dragoner Regimentes Nr. 10 und schied – wie alle seine Brüder- aus dem Militär aus. Er sorgte auch dafür, dass sein Sohn Gottfried, mein Vater, geboren in Stendal (1900 bis 1956) , sich nicht in das 100000 Mann Heer der Weimarer Republik übernehmen ließ. Mein Vater war 1918 nach dem Abitur auf dem Kaiser Wilhelm Gymnasium in Hannover in Stendal in das Husarenregiment 10 eingetreten. Er sollte das Gut Kalbe II übernehmen und lernte als "Eleve", so nannte man es, Landwirtschaft in Wittenmoor und Saatzucht in Vienau bei der Familie von Kalben. Mein Vater war der erste Landwirt der Altmärker Goßlers und bisher auch der letzte.
Inzwischen besaßen meine Großeltern auch ein anderes, sehr schön gelegenes Gut bei Soltau, nämlich den Brümmerhof, einen Heidehof. Er wurde von der Mitgift meiner Großmutter gekauft. Meine drei Schwestern sind in Soltau geboren. Ich (1939) - wie mein Vater ebenfalls auf den Namen Gottfried getauft - wieder in Stendal. Mein Vater heiratete 1923 Irmgard geb. Gräfin von Hardenberg ( Linie-Neuhardenberg). Das Schloss meines dreifachen Urgroßvaters Hardenberg, Bruder des Staatskanzlers in Preußen, Fürst Hardenberg, liegt östlich von Berlin. Dort tagte unter Bundeskanzler Schröder zuweilen die Bundesregierung und im Kriege die Männer und Frauen des 20. Juli.

Meine Eltern verlebten die schönsten Jahre ihres Lebens auf dem Brümmerhof und in den Ferien in Kalbe. In den 30-er Jahren wurde der Brümmerhof verkauft zum Bedauern meiner Eltern. Meine Eltern zogen nach Kalbe in das sog. Schweizerhaus gegenüber dem Schloss. Heute steht dort ein Altersheim, dessen Bau noch zu DDR Zeiten begonnen wurde. Meine Großmutter wohnte als Witwe im Schloss, ebenfalls unser Diener, Ernst Rasch, eine große Respektsperson für mich. Die alten Zeiten klangen hier noch an, denn natürlich gab es früher zahlreiches Dienstpersonal in den Schlössern und auf den Höfen. Die Produktivität in der Landwirtschaft ist in den letzten 100 Jahren drastisch gestiegen. Für uns arbeiteten damals ca. 40 Leute. Heute würden 180 ha von einer Person (zur Ernte zwei-drei) ganzjährig bearbeitet. Ich wurde kurz vor dem Krieg geboren und kam Ende 1945 in Kalbe unter einem weiteren diktatorischen System (sowjetisch besetzte Zone) in die Schule.

Unsere Situation im Dritten Reich war nicht einfach, ja sogar bedrohlich. Meine dreifache Urgroßtante ist die berühmte Schriftstellerin und Salonniere Rahel Varnhagen von Ense geb. Levin. Sie führte ein aktives gesellschaftliches Leben in Berlin; in der Nähe des Gendarmenmarktes (Jägerstr 54/55). Rahel stammte aus einer jüdischen Familie. Ihr Bruder, mein dreifacher Urgroßvater, Marcus Robert-Tornow (vor der christlichen Taufe Marcus Levin), war Direktor der Preußischen Seehandlung, später bekannt als Preußische Staatsbank. Der Co-Direktor war ein Herr von Lamprecht. Die jüdische Verwandtschaft musste verborgen werden. Dazu kam, dass mein Vater nach dem Erlebnis von Stalingrad, er war dort in Gefangenschaft geraten und kam erst 1954 zurück, mit anderen Offizieren einen Brief an die deutsche Wehrmachtsführung geschrieben hatte, mit der Auforderung , Hitler abzusetzen. Dieser Brief - als Flugblatt - befindet sich heute in der Gedenkstätte des Deutschen Widerstandes in Berlin. Dieser Widerstand führte zu einem Führerbefehl mit einem Todesurteil für meinen Vater und möglichen schweren Folgen für die Familie. Es herrschte Sippenhaft.
Mein Vater wurde in Gefangenschaft bespitzelt. Er war kein Kommunist. 1949 wurde er wegen Spionage als Kriegsgefangener von einem russische Militärgericht zu 25 Jahren Haft verurteilt. Mein Vater- Hauptmann der Wehrmacht und Kompaniechef- war als sog. Feindaufklärer (Ic) in den letzten Wochen im Kessel von Stalingrad eingesetzt. Nach der Wende in Russland wurde dieses Urteil aufgehoben. Er ist einer der wenigen Gefangenen aus dem Stalingradkessel – von 200.000 Soldaten fielen 100.000 und nur ca. 5.000 kehrten aus der Gefangenschaft zurück. Als er 1954 im Lager Friedland bei Göttingen ankam, lagen 12 Jahre russische Gefangenschaft hinter ihm, ein Martyrium

Das Kriegsende war eine Befreiung. Die Amerikaner kamen Mitte April 45 als kämpfende Truppe nach Kalbe. Wildgewordene BDM- Schülerinnen (Bund Deutscher Mädchen, eine Nazi-Organisation), fanatisiert und irregeleitet durch die Propaganda, wollten mit Panzerfäusten den Vormarsch der Amerikaner stoppen. Mühsam konnte meine Mutter ein Mädchen von diesem Wahnsinn abhalten . In dieser Zeit erschoss sich ein amerikanischer Soldat vor dem Saal unseres Schlosses aus Versehen. Er war betrunken und wollte mit dem Gewehr eine Scheibe einschlagen. Captain Meiners, der die Truppe kommandierende Amerikaner, drohte Kalbe in Schutt und Asche zu legen, wenn ein Deutscher diesen Soldaten erschossen hätte. Dieser Soldat hatte zwei Begleiter, die ebenfalls Alkoholbestände geplündert hatten. Meine Mutter hatte sich deren Gesichter gemerkt, weil sie auch meine Schwestern bedrohten. Captain Meiners war ein anständiger Soldat. Er ließ seine Soldaten antreten und meine Mutter konnte die Übeltäter identifizieren. Sie waren einschlägig bekannt. Es hatte keine Konsequenzen für Kalbe.

Später kamen die Engländer als Besatzung, die uns Kindern Schokolade schenkten, und eines Tages, ich glaube Anfang Juli, kamen aus Richtung Neuendorf die Russen mit Panjegespannen. Wahrscheinlich waren sie ausgehungert, denn sie warfen Handgranaten in den Karpfenteich, sprangen in ihren verdreckten Uniformen ins Wasser und aßen die so getöteten Fische roh zu ihrem pechschwarzen Kommisbrot. Die Engländer hatten uns übrigens , als sie im Juni abzogen , angeboten – sie stellten zwei Lastwagen – mit in den Westen zu kommen. Sie wussten was kommen würde. Enteignung und letzten Endes Vertreibung durch die Kommunisten. Junker und Ausbeuter waren die stalinistischen Schimpfworte.
Bis Oktober 1945 durften wir auf unserem Besitz bleiben. Von heut auf morgen mussten wir dann unser Haus verlassen. Ich erinnere mich an die Henkersmahlzeit: Schokoladensuppe! Ein Bett für jeden, einen Stuhl, einen Löffel durften wir mitnehmen. Nichts für meinen Vater, der nicht in Kalbe war, sondern in Gefangenschaft in Kasan . Wir mussten den Kreis verlassen und wurden nach Wernstedt gebracht.. 1961 starb dort meine Großmutter im Alter von 86 Jahren und konnte nicht auf unserem Friedhof -3 km entfernt- in Zichtau beerdigt werden. Ich war inzwischen schulpflichtig und aus diesem Grunde wurde uns erlaubt nach kurzer Zeit nach Kalbe zurückzukehren. Wir wohnten bei meiner Patentante, Frau Minna Müller, einer Tochter der Theologen- und Gelehrtenfamilie Müller. Julius Müller – ihr Bruder - war auch mein Lehrer, sowie Herr Dröscher, Herr Herper und Herr Daenert . Herr Lübke wurde Direktor der Volkschule.
Von nun an bis 1951 war der Hunger unser Begleiter. Aber fast alle Nicht- Bauern in Kalbe hungerten. Die Bauern standen unter der Knute des Solls. Wehe sie konnten ein bestimmtes Erntesoll nicht abliefern. Später wurde sie alle in die LPGs (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) gepresst. Viele Leute haben uns geholfen, insbesondere auch der Bauer Bernhard Baas. Mal ein Liter Milch, mal Kartoffeln und im Herbst Zuckerrüben, die zu Sirup gekocht wurden.

In der Schule gab es keine Schwierigkeiten für mich. Geburtstagsgrüße an Stalin unterschrieb ich nicht. Kein Lehrer hat mich - nach kommunistischer Lesart - den Sohn eines Junkers und Ausbeuters, je dazu gezwungen. Eigentlich begriff ich kaum, warum ich nicht gratulieren sollte, aber ich ahnte, dass er ein ähnlicher Verbrecher wie Hitler war. Ich erinnere mich an die letzte aufgezwungene Meinung über die Abtrennung der Oder-Neißegebiete einerseits und des Saarlandes andererseits.

1947 nach dem eisigkalten Winter waren wir derartig verhungert, dass Wunden an den Beinen nicht mehr heilten. Man nannte es die russische Krätze. In Wirklichkeit waren es Hungerödeme. Es musste etwas geschehen. Mit unserer ältesten Schwester ging ich - wie es hieß – schwarz über die Grenze in den Westen nach Süschendorf bei Lüneburg zu Verwandten. Dort gab es Milch, und nach kurzer Zeit waren alle Wunden verheilt. Auf dem Hinweg konnte die Zonengrenze östlich von Salzwedel ohne Probleme passiert werden. Auf dem Rückweg sechs Wochen später nahm uns - und viele andere- ein russischer Grenzposten fest. Meine Schwester sagte mir: "Jetzt brüllst du wie verrückt“. Es half. Der junge russische Grenzposten konnte das nicht aushalten und ließ uns gehen. Später, nahe Salzwedel, wollte uns ein Volkspolizist festhalten. Meine Schwester, damals knapp über 20 Jahre, packte der Zorn und sie herrschte diesen Menschen an, er solle uns gefälligst in Ruhe lassen, wie der russische Grenzposten. Wir gingen einfach weiter. Einen Schießbefehl gab es noch nicht.

Trotz aller Gefahren, die hauptsächlich meine Mutter spürte- zwei Schwestern waren gleich nach dem Krieg in den Westen gegangen- sagt meine Erinnerung mir, dass ich eine schöne Jugend in Kalbe/Milde mit all meinen Spielkameraden hatte .

Es wurde jedoch für meine Mutter Ende 1950 unerträglich. Es gab keine Chance für von Goßlers, für Kommunisten einer Klasse zugehörig, die ausgeschaltet werden musste. Ich hätte keine weiterführende Schule besuchen dürfen, da meine Eltern keine Arbeiter waren. Wir mussten fliehen. Keiner durfte davon erfahren. Zum Schrecken meiner Mutter kam eines Tages der Vater meines Schulfreundes, ein Sudetendeutscher, und fragte, wie wir denn in den Westen kommen wollten. Hatte ich mich beim Spielen mit seinem Sohn verplappert? Das war lebensgefährlich. Ich denke, auch mein Lehrer, Herr Daenert, der mit meiner ältesten Schwester zur Schule gegangen war, wusste es. Keiner verriet uns. Es ging gut.

Über Helmstedt gelangten wir im März 1951 in den Westen. Ich hatte gerade noch in der Schule in Kalbe gelernt wegen des Koreakrieges über die Amerikaner zu schimpfen. Wir fuhren, nach passieren der obligaten Flüchtlingslager, zu meinem Onkel, Graf Hardenberg, nach Überlingen an den Bodensee. Überlingen war ein Paradies. Eine wunderschöne Landschaft, keine sichtbaren Kriegsschäden, die Läden waren voll. Eis am Stiel kostete 10 Pfennig! Aber ich hatte meine Heimat verloren, und das habe ich bis heute nicht vergessen.

Ein bewegendes Ereignis war für mich die Öffnung der Mauer 1989. Im Mai 89 hatte ich mit Frau und Kindern das erste Mal wieder für 12 Stunden die Altmark besucht. Hamburg, wo wir wohnten, gehörte plötzlich zum sogenannten grenznahen Kreis und wir bekamen für 24 Stunden einen Passierschein. Bei Bergen/Dumme überquerten wir den Eisernen Vorhang. Keine Kontrollen im Westen, intensive Kontrolle im Osten. Der Grenzer fragte mich, wen ich denn in Kalbe besuchen wollte. Ich überlegte eine Weile, denn ich hatte völlig den Kontakt verloren. Mir fiel der Name eines Klassenkameraden ein. Ich nannte ihn. Darauf der Grenzer: "Geht nicht, der ist tot. Gestorben an einer Lungenentzündung“. Ich hatte natürlich keine Ahnung. Der erste, der mir in Kalbe begegnete, und nicht mehr mit einer Igelfrisur wie 1950 üblich, war der angeblich an einer Lungenentzündung Gestorbene. Später erfuhr ich von einem ehemaligen Grenzsoldaten, dass mehrere Fangfragen vorbereitet werden mussten für Besucher aus dem Westen. Dies war eine. Hätte ich geantwortet, das stimmt nicht, ich weiß, dass er lebt., wäre klar gewesen, dass ich noch eine Verbindung nach Kalbe gehabt hätte.

Die Fahrt von Salzwedel nach Kalbe im Auto dauerte nicht lange. Ab Kakerbeck, dem "längsten Straßendorf der Welt“, erkannte ich alles. Ich bekam einen Schreck. Graue Häuser, Bretter lagen herum, kaum ein Mensch auf der Straße, unser Schloss in Kalbe war heruntergekommen. Der Arbeiter und Bauernstaat war verlottert. Dass er am Ende war, ahnte man im Mai 1989 noch nicht, wenn man aus dem Westen kam. Einige Leute kannte ich noch. Frau K. freute sich ein Bein aus. Ein Klassenkamerad, den wir besuchten, schrieb mir später, er hätte bei der Stasi in Salzwedel berichten müssen, wo wir zwischen 14 und 16 Uhr gewesen seien. Wir wurden also beobachtet von der Gilde Guck und Horch! Auf unserer Rückfahrt über Salzwedel nach Hamburg wurden wir von vielen Autos angeblinkt. Zunächst dachte ich, man wolle uns vor Geschwindigkeitskontrollen der Polizei warnen, wie es im Westen üblich war. Eine gänzlich falsche Annahmen. Man begrüßte uns! Westautos mit dem Kennzeichen HH (Hansestadt Hamburg) gab es in dieser Gegend nur selten.

Im Herbst 1989 kam die friedliche Revolution: ein Glanzstück deutscher Geschichte. Als Bundeskanzler Kohl seinen 10 Punkte Plan veröffentlichte, befand ich mich aus beruflichen Gründen in England und erlebte die Reaktion englischer Kollegen hierauf. Für mich ein ganz "zahmer“ Plan, der in der fernen Zukunft eine deutsche Föderation aus beiden deutschen Staaten vorsah.
Für manchen Engländer eine unmögliche Vorstellung. Von Selbstbestimmung der Deutschen keine Rede. Der einzige in diesem Zusammenhang bedeutende Politiker, der das Recht auf Selbstbestimmung zu diesem Zeitpunkt stützte, war der amerikanische Präsident Bush (der Ältere). Auch viele Westdeutsche waren im Hinblick auf eine Wiedervereinigung sehr abwartend. Mein Gefühl sagte mir: es dauert nicht lange. So geschah es. Endlich konnte ich meine Heimat wieder jederzeit besuchen. Ich lief über "unsere“ Felder mit einem ehemaligen Klassenkameraden, der zu mir sagte:“Dies ist bald wieder alles eures“. Er sagte aber auch: "Manche Leute grüßen mich nicht mehr, weil ich mit Dir hier spazieren gehe“ So tief saßen die Vorurteile nach jahrzehntelanger Propaganda.

Ein anderer Klassenkamerad fragte mich, was ich denn in Kalbe wolle: Ich hätte doch alles im Westen . Damit hatte er recht! Ich habe oft darüber nachgedacht, was aus mir geworden wäre ohne Enteignung und Vertreibung, dem Raub unserer Lebensgrundlage (siehe Exkurs). Aber jede Katastrophe zwingt zum Neuanfang und bietet ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten. Ich denke, ich habe viele dieser Möglichkeiten mit meiner Familie ergriffen. Trotzdem hänge ich an meiner alten Heimat.

Quellen:

Familie von Goßler. 1886 als Manuskript gedruckt
Heinrich von Goßler: Familienchronik 1921
Wilhelm von Goßler: Die Familie v. Goßler in Stammfolgen 1939
Persönlichkeiten der Verwaltung 1800-1933. Dessau Kulturamt 1994
Archiv der Familie v. Goßler

Exkurs: Die zwei Enteignungen des Rittergutes II in Kalbe/Milde

Es ist nicht neu, dass der Mensch den Strömungen der Zeit und den "Mächtigen“ ausgeliefert ist. Stalin hatte in der Sowjetunion den Kulaken das Land genommen und sie zu Millionen verhungern lassen. In der sowjetisch besetzten Zone wurden alle Bauern und der landsässige (historische) Adel, sofern man mehr als 100 ha besaß, 1945 enteignet und aus dem Landkreis verbannt (erste Enteignung). Heute würde diese Maßnahme als ein Verstoß gegen die Menschenrechte verurteilt. Es bestand vor der Wiedervereinigung im Westen kein Zweifel, dass diese Unrechtsmaßnahme wieder rückgängig gemacht werden würde. (Man studiere hierzu die Dissertation von Dr. Constanze Paffrath: Macht und Eigentum, ISBN 9783412181031, Böhlau Verlag, Köln 2003)
Das geraubte Land wurde 1945 größtenteils an Siedler, ehemalige Landarbeiter und Flüchtlinge verteilt; mit Bildung der LPG ( Landwirtschatliche Produktionsgenossenschaften) 1950 aber wieder weggenommen und in die LPGs eingebracht. Oft wurden auch Staatsgüter geschaffen. (Zichtau z.B.) Das Rittergut II in Kalbe wurde aufgesiedelt, d.h. in zahlreiche kleine (2 bis 5 ha) Flächen aufgeteilt.

Die Regierung Modrow hat kurz vor der Wiedervereinigung die Siedler zu Eigentümern gemacht. Es gab Prozesse vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Regierung Kohl hat dort behauptet, dass die Enteignung nicht wieder rückgängig gemacht werden könne, weil die russische Regierung (Gorbatschow) dann der Wiedervereinigung nicht zustimmen würde. Es wurde sogar die Verfassung der Bundesrepublik ergänzt. Ich habe teilgenommen an einer Versammlung in Berlin, in der Gorbatschow zu diesem Thema Stellung genommen hat. Er hat dort die Behauptung, er hätte die Rückgabe der enteigneten Ländereien verboten, weit von sich gewiesen. Ihn hätten ganz andere Dinge interessiert, z. B. der Eintritt des Ostteils Deutschlands in die Nato. Es wurde also von der Kohl-Regierung etwas behauptet, was nicht der Wahrheit entsprach. Stattdessen hat sich das wiedervereinigte Deutschland große Teile des enteigneten Landes angeeignet (zweite Enteignung) und in den vergangenen 24 Jahren schrittweise verkauft. Auch wieder an meine Familie! Wir durften also unser eigenes Land jedenfalls teilweise wieder kaufen.

Kaufmann, der ich bin, habe ich einmal nachgerechnet, welche "Zwangsspende“ meine Familie – man könnte auch sagen "Sondersteuer“ - hierdurch an den deutschen Staat gezahlt hat. Würden wir das Rittergut II in Kalbe heute verkaufen, würden wir allein für das Land rd.1,5 Million Euro erlösen. Dazu käme das Schloss etc. Sagen wir, der Wert würde heute insgesamt ca.2 Millionen Euro betragen. Wir besaßen außerdem drei Häuser in Kalbe. Im Grundbuch, das ich in Barby (Ort in Sachsen-Anhalt, hierhin hatte die DDR die Grundbücher ausgelagert) fand , sind diese Einträge herausgerissen.

Wir haben einen sogenannten Ausgleich vom Bundesverfassungsgericht zugestanden bekommen in der Höhe von rund 4 % des obigen Wertes. Dies sind grobe, gerundete Zahlen und auf den heutigen Tag bezogen. Damit haben wir als Familie dem deutschen Staat oder den Siedlern durch Landtransfer Geldmittel zukommen lassen, die ein Durchschnittsbürger in seinem ganzen Leben nicht als Steuern zahlen würde. Eine abenteuerliche Rechnung? Ein Kaufmann ist gewöhnt – und ich habe Betriebswirtschaftslehre studiert- in Bilanzen alles in Geld auszudrücken.

Der Verlust meiner Heimat ist allerdings nicht in Geld aufzuwiegen.

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